ARTE EX MACHINA - LESEPROBE

Leseprobe aus Kapitel 4 - »Die kleine Frau«

Sie hatte lange überlegt, ob sie wirklich zu ihm gehen sollte. Ja, es ging ihr etwas besser, sie hatte sich beruhigt. Sie hatte den schweren Bombenanschlag in Dortmunds Nordstadt, bei dem ihre Mutter –  wie so viele andere unschuldige Menschen – sehr schwer verletzt worden und schließlich gestorben war, und alles, was darauf folgte, natürlich nicht so einfach weggesteckt. Den Überlebenskampf im Krankenhaus hatte Kathryn Wunderlich nach knapp vier Wochen verloren.

Das ständige Warten auf Nachrichten – seien es gute oder schlechte – aus der Klinik hatte die kleine Frau zermürbt. Nicht einmal ein Mensch, der seine Gefühlswelt so gut im Griff hatte wie sie – das glaubte sie wirklich, welch ein Irrtum! –, hätte das alles so schnell verarbeiten können.

Jetzt stand sie auf der Straße vor der Durchfahrt zum Atelier des jungen Mannes, den sie vor fast zwei Wochen so überaus erfolgreich verführt und mit dem sie sich sehr intensiv und wie im Vollrausch bespaßt hatte. Wenn es nicht um den außergewöhnlichen Ring gegangen wäre, den ihre Mutter ihr nur wenige Tage vor ihrem Tod geschenkt hatte, wäre sie nie im Leben noch einmal hergekommen.

Sie nahm mit großer Sicherheit an, dass sie ihn hier liegen gelassen hatte, als sie am ›Morgen danach‹ ziemlich umgehend geflüchtet war und den Liebhaber für eine Nacht etwas ratlos auf der Bettkante zurückgelassen hatte. Zu blöde von ihr, dass sie überhaupt ein zumindest für sie so wertvolles Schmuckstück mit auf ihren ›Raubzug‹ genommen hatte. War doch klar, dass das eine echte Steilvorlage für das Schicksal war, sie den Ring verlieren zu lassen. Es fühlte sich halt besser an, die Schuld irgendwem in die Schuhe schieben zu können, und wenn es nur das doofe Schicksal war!

Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie den jungen und etwas naiven Künstler dazu benutzt hatte, ihr Entsetzen und ihre Trauer über den Anschlag auf das Leben ihrer Mutter durch eine Nacht der Ekstase mit Sex und Alkohol betäuben zu wollen – wenigstens für diesen Moment! Sie schämte sich einerseits, andererseits auch wieder nicht. Der junge Mann hatte in seinem Leben bisher vielleicht selten so viel Spaß gehabt, dachte sie selbstbewusst. Wie viele kleine Menschen versuchte sie meist, sich unter Zuhilfenahme eines überhöhten Selbstbewusstseins (und hoher Absätze) sichtbarer zu machen, um nicht in der Maße der Großen unterzugehen!

Sie zögerte einen Moment, dann schritt sie durch die dunkle Einfahrt. Ein Auto stand im Hof, ein alter verbeulter Renault Kangoo, von dem sie annahm, dass er ihm gehörte, ihm, Marc – das war sein Name, oder zumindest der, der auf dem Türschild an der Straße gestanden hatte, Marc Thiemenkötter.

Sie konnte sich nämlich nicht erinnern, dass sie noch ihre Namen ausgetauscht hatten, bevor es richtig zur Sache gegangen war. Und danach offensichtlich auch nicht!

Nur gut, dass ich mich noch erinnert habe, wo in etwa ich mich in jener Nacht herumgetrieben habe – zumindest das! Wäre ich ihm auf der Straße begegnet, hätte er mich wahrscheinlich umrennen können, und ich hätte ihn nicht erkannt.

Sie ging auf die 1,50 Meter hohe Laderampe zu, die entlang des Hinterhofhauses verlief, und stieg – langsamer als üblich, wo sie doch normalerweise, wie so viele kleine Menschen, alles überaus schnell machte – die Rampe hinauf. Die erste Tür führte zu irgendeinem Büro, ein Kunsthandel dem Schild nach zu urteilen, das dort etwas windschief an der Wand hing.

Davor stand ein größerer Karton, der allerdings an Marc und nicht an das andere Büro adressiert war. Ein Aufkleber teilte ihr mit, dass es sich um eine Lieferung gedruckter Flyer mit dem Titel »ARTIST:REBELLION – The Picasso leaks« handelte. Sie überlegte kurz, ob sie den Karton vor Marcs Tür schieben sollte, unterließ es aber dann. Das war eindeutig sein Problem, und er war sowieso größer und kräftiger und somit besser geeignet, schwere Kartons durch die Gegend zu tragen.

Sie ging auf der Rampe zum hinteren Teil des Gebäudes. Es war nichts zu sehen und zu hören, selbst den Vögeln schien es zu heiß zu sein. Sie hielten entweder den Schnabel, um die Atmosphäre noch unheimlicher zu gestalten, oder sie waren erschöpft von der Hitze von ihren Dächern, Ästen und Leitungen gefallen und lagen wahrscheinlich erschöpft rum.

Die Stille kam ihr für die Tageszeit – es musste etwa 16:00 Uhr sein, so genau wusste sie das nicht, sie hatte ausnahmsweise auf Schmuck und Armbanduhr verzichtet, war heute alles zu heiß – geradezu unheimlich laut vor! Und trotz der Hitze spürte sie einen leichten Schauder. Auch das Gefühl, beobachtet zu werden, überkam sie kurz. Aber da war definitiv niemand zu sehen. Alle Nachbarn hatten sich in die nächsten Eisdielen oder Biergärten verpieselt oder die Jalousien heruntergelassen, um die Sonne auszusperren.